Die Poetin by Dieckmann Guido

Die Poetin by Dieckmann Guido

Autor:Dieckmann, Guido [Dieckmann, Guido]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2016-03-15T00:00:00+00:00


16. Kapitel

Die Feuersbrunst im Rosenblattgässchen breitete sich nur langsam aus, fand aber in dem trockenen Holz des Dachgebälks und dem trockenen Stroh der zwei Lagerspeicher reichlich neue Nahrung. Gierige Flammen krochen wie lauernde Katzen mit grünen und roten Augen die Wände entlang, umschlangen die Gauben und suchten sich ihren Weg bis hinauf zu den ausladenden Giebeln.

Heller, beißender Rauch hüllte die von wilden Weinstauden bewachsenen Erker vollständig ein.

Nanetta hielt schützend beide Arme über ihren Kopf, als sie sich durch die dichten Rauchschwaden kämpfte. Sie achtete nicht auf Mellhausens aufgebrachtes Geschrei, das in einem Röcheln unterging. Ungestüm lief sie über den Hof und stieß das hölzerne Tor auf. Mußte nicht jeden Moment die Wolkendecke aufbrechen und der göttliche Zorn sich in Gestalt einer wahren Sintflut über das brennende Haus des Buchhändlers Oppenheimer ergießen? In einem Roman wäre es gewiß so gewesen, überlegte Nanetta keuchend. Aber dies war kein Roman, nur die nackte, häßliche Wirklichkeit, vor der Nanetta größere Angst hatte als vor sämtlichen Feuerhöllen dieser Welt.

Mittlerweile hatte der Apotheker auf seinen schwankenden Beinen ebenfalls den Hof erreicht. Heftig zerrte er an Nanettas Schultertuch. Seine Stimme versagte, aber unaufhörlich bemühte er sich, das sonderbare Mädchen auf die andere Straßenseite zu ziehen.

Erst da erkannte Nanetta die schemenhaften Gestalten, Männer und Frauen in unförmige, nasse Tücher gehüllt, die aufgeregt zwischen Haus und Innenhof hin und her liefen, Kleider, Teppiche, Möbelstücke und kastenförmige Koffer ins Freie schleppten und ihre Beute ungeniert auf eilig bereitgestellte Holzkarren warfen. Irgend jemand hatte auch die Stallungen geöffnet. Hühner, Gänse und zwei Ziegen irrten verloren über den Hof, bevor sie in dem Lattenzaun zum angrenzenden Grundstück einer Handwerkerfamilie einen schmalen Durchschlupf fanden.

Nanetta verließ ihren Beobachtungsposten neben der Wasserpumpe und taumelte auf eine Frau zu, die sich anschickte, einen Schrankkoffer auf dem Wagen zu verstauen. Aus einer Ritze des Koffers ragte der rechte Ärmel von Mutters Sabbatkleid. Nanetta selbst hatte den Spitzenbesatz angenäht, allerdings so schief, daß die Mutter niemals vergaß, lange Handschuhe darüber zu ziehen. Wahrscheinlich befanden sich auch ihr Schmuck und die Geldkatze ihres Vaters in dem Koffer, aber Geld war Nanetta niemals so gleichgültig gewesen, wie in diesem Augenblick.

»He, warte!« rief sie der Frau am Wagen zu. »Du bist doch eine Waschmagd im Oppenheimerschen Haus! Wo ist die Familie und wo sind ihre Gäste, die Schildesheims?«

Die Magd zuckte mit den Achseln; sie würdigte das rußverschmierte Mädchen in ihrem zerfetzten weißen Sommerkleid keines Blickes.

Wütend zerrte Nanetta an den Plüschkissen, mit denen die Magd den großen Schrankkoffer mit Mutters guten Kleidern polstern wollte.

Grob packte die Magd Nanetta an der Schulter und holte mit der rechten Hand aus. Sie war größer als Nanetta und viel kräftiger. »Mach, daß du vom Hof verschwindest, du kleines Luder!« kreischte sie, während ein Fremder, der den Streit der beiden Frauen offensichtlich verfolgt hatte, den Wagen mit dem Schrankkoffer in Richtung Hofeinfahrt lenkte. »Euch gehört hier gar nichts mehr!«

»Du kannst mich totschlagen, aber ich gehe nicht vom Hof, ehe ich nicht weiß, wo meine Eltern sind!« entgegnete Nanetta ohne Furcht.

Die Augen des Weibes verengten sich. Dann aber zögerte sie.



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